Träume aus Licht:
Rezension „Sunset Boulevard“ in Ettlingen
Ein toter Schimpanse, der betrauert wird, als wäre das eigene Kind gestorben. Längst vergessene Stummfilme flimmern über die Leinwand und ein wortkarger Butler schreitet auf leisen Sohlen durch die Gänge. Ziemlich unheimlich scheint die Stimmung in der alten Villa, dabei ist es eigentlich ganz einfach:
Norma Desmond, Stern des Stummfilms, hat den Anschluss an die Zeit verpasst. Längst haben die Filme sprechen gelernt und niemand denkt mehr den Star früherer Jahre. Die alternde Diva hat ein Drehbuch verfasst – da kommt ihr der auf der Flucht vor seinen Gläubigern zufällig auf ihrem Anwesen gestrandete Drehbuchautor Joe Gillis gerade recht. Er soll das Werk redigieren und ihr so zu einem Comeback verhelfen. Dass sie ihn mit Haut und Haaren vereinnahmt, kann zu keinem guten Ende führen.
„Sunset Boulevard“, das 1993 in London uraufgeführte Musical von Andrew Lloyd Webber (Musik), Don Black und Christopher Hampton (Libretto) basiert auf Billy Wilders gleichnamigem Film und steht immer wieder gerne auf den Spielplänen. In Ettlingen inszeniert Intendant Udo Schürmer eine rundum gelungene Version, die auch dank Anne Weilers zeitgemäßen Kostümen wunderbar das Kolorit der 1950er Jahre widerspiegelt und im Schlosshof ein passendes Ambiente findet.
Wieder einmal ist das Ettlinger Schloss prägender Bestandteil einer gelungenen Bühnenkulisse. Rechts platziert Bühnenbildner Steven Koop die Freitreppe, auf der Norma Desmond in ihre Gemächer hinauf- und in den Salon hinabschreitet, links prangen auf einem riesigen runden Schild von Sternen umrahmte Berggipfel. Klar: Man befindet sich in den Paramount Studios. Die Tür in der Bühnenmitte verbindet beide Bilder und dient einmal als Tor zur Villa, dann wieder als Eingang ins Studio. Im Raum hinter der Mittelempore dirigiert der Musikalische Leiter Jürgen Voigt das elfköpfige Orchester durch bombastische Soli und schwungvolle Ensemblenummern, die in ihrer Gesamtheit durch viele Reprisen und Underscores eine stark cineastische Wirkung erzielen.
Wie eine Filmgöttin betritt denn auch Betty Vermeulen alias Norma Desmond die Szenerie. In schwarzer Robe, verbrämt mit etwas Gold und Glitter, gibt sie die Diva, die dank der von Butler und Ex-Ehemann Max fingierten Fanpost immer noch glaubt, dass „Nur ein Blick“ von ihr die Welt innehalten lässt, der sie einst „Träume aus Licht“ gab. Innehalten kann auf jeden Fall das Ettlinger Publikum, denn Betty Vermeulen liefert stimmlich und schauspielerisch eine Meisterleistung ab. Schon von den ersten Tönen geht ein regelrechter Energieschub aus. Vermeulen wechselt fast unmerklich von sanften Klängen zu druckvollem Crescendo und zurück. Mit auffällig schöner Klangfarbe und perfekter Stimmführung legt sie alle Emotionen in ihren Gesang. Hinzu kommt eine bis in kleinste Nuancen authentische Darstellung, die sie fast mit ihrem Bühnencharakter verschmelzen lässt. Betty Vermeulen vermittelt die verdrängte Traurigkeit der Norma Desmond ebenso glaubhaft wie die verzweifelte Hoffnung, mit der sie sich an Joe Gillis klammert. Die ganze Theatralik der Stummfilmzeit wird mit Betty Vermeulen lebendig: übertriebenes Augenrollen, grimassenhaftes Grinsen und ausladende Gesten, die gesprochenen Text ersetzen. Fast beängstigend real gelingt am Schluss das Abdriften der Diva in den Wahnsinn. Norma Desmond, mit aufgelöster Frisur, in verrutschtem Kleid aus Goldlamé, die in einem unkontrollierten Akt der Eifersucht Joe Gillis erschießt, damit dieser sie nicht verlassen kann. Kameras und Polizisten, die die Mörderin abführen wollen, interpretiert Norma als Kulisse für den lang ersehnten Film, das Blitzlichtgewitter der Sensationsreporter als Applaus, für den sie sich auch artig bedankt. Betty Vermeulens Darstellung besticht durch Eindringlichkeit und macht sie zum glanzvollen Mittelpunkt einer ideenreichen Inszenierung, die schon mit der Anfangsszene punktet.
Nach und nach füllt sich da der Platz vor den Paramount-Studios. Menschen, teils in Alltagskleidung, teils in Bühnenoutfit, führen wichtige Gespräche, sind unterwegs zu wichtigen Terminen, quirlen wild durcheinander. Mittendrin Joe Gillis. Die Paramount-Darsteller verschwinden durch die Tür ins Studio, zurück bleiben Personen in langen braunen oder beigen Mänteln, zwischen denen Joe sich in seinem schäbigen Anzug fast unsichtbar machen kann und so seinen Verfolgern entwischt. Dass Thomas Klotz in der Rolle des mittellosen Drehbuchautors auch stets im Schatten der alles überstrahlenden Diva steht, ist rollenbedingt und somit in weiten Teilen absolut stimmig. Klotz arbeitet die Entwicklung seiner Beziehungen sehr gut heraus. Anfangs von ihm belächelt, dann bemitleidet, erkennt Joe allmählich, welch‘ großer Star die Desmond einmal war. Die Annäherung der beiden wird mit der immer vertraulicher werdenden Anrede verdeutlicht. Normas intensive Gefühle werden Joe jedoch zunehmend unangenehm, je tiefer seine Zuneigung zu Betty Schaefer wird. Stimmlich gefällt Thomas Klotz sehr gut in den Duetten und den Soloparts zu Beginn, seiner Interpretation des Titelsongs hätte etwas mehr Vehemenz noch mehr Nachdruck verliehen. Seine Auflehnung gegen die Scheinwelt der Filmbranche bleibt auch schauspielerisch ein wenig brav.
Gar nicht brav-zurückhaltend, sondern vor Lebensfreude und Optimismus sprühend ist Dorothée Kahler als Betty Schaefer. Liiert mit Artie Green (Jan Schuba), hat sie doch ein Auge auf Joe geworfen und arbeitet nur zu gerne mit ihm an einem gemeinsamen Drehbuch, das für beide zur Realität wird. Mit „Viel zu sehr“ singen Kahler und Klotz eine ergreifende Ballade, in der sie gegenseitig ihre Gefühle offenbaren. Dorothée Kahlers Spiel glänzt durch Natürlichkeit und Frische und passt ganz hervorragend zum Rollencharakter.
Gleiches gilt für Hans Neblung in der Rolle des Max von Mayerling. Würdevoll, fast einschüchternd, mit steifer Körperhaltung und immer hundertprozentig auf Etikette achtend, ist er der perfekte Butler. Neblungs sonore Stimme, die klare Intonation und die sauberen Übergänge in die Kopfstimme machen sein Solo „Kein Star wird jemals größer sein“ zu einem der großen Momente am „Sunset Boulevard“. Dass Max „seiner“ Norma immer noch treu ergeben ist, zeigt Neblungs differenziertes Spiel: Sobald er sie in Gefahr sieht, verliert er seine höflich-distanzierte Haltung und lässt seinen sonst so gut kontrollierten Emotionen freien Lauf. Er verteidigt sie vehement gegen Filmboss Sheldrake (herrlich arrogant: Thomas Wißmann) und verbündet sich sogar mit dem von ihm nicht gerade geschätzten Joe Gillis, damit Norma nicht erfährt, dass nicht ihr Schauspiel oder gar ihr neues Drehbuch, sondern nur ihr Oldtimer für die Paramount-Studios interessant ist.
Neben den sauber gezeichneten Charakteren schafft Regisseur Udo Schürmer gemeinsam mit Choreograph Bart de Clercq auch einfallsreiche Ensembleszenen, wie den ausgelassenen, ägyptisch anmutenden Tanz bei der Silvesterparty am Paramount-Set oder den Besuch der Diva in den Studios, bei dem durcheinander schwirrende Kaffeeträger, Requisiteure, Putzfrauen und leicht bekleidete Tänzerinnen ein anschauliches Bild eines Filmsets ergeben. Mit dem Regisseur in (zu engen) Glanzhosen und Schal, den rosa bekittelten Kosmetikerinnen oder den überdreht-gekünstelten Herrenausstattern, die Joe auf der Bühne in einen edlen Smoking stecken, werden Klischees auf die Schippe genommen, was auf niveauvolle Weise auch eine Portion Humor ins Spiel bringt.
Lachende Gesichter und fröhlich-bunt leuchtende Lampions sieht man bei der Party der Filmleute, grellweiß setzt sich dagegen auf der anderen Bühnenseite Norma Desmonds einsame Villa in der Silvesternacht ab. Die Schlossfenster sind in einigen Szenen knallrot, aber meist zurückhaltend blau von innen beleuchtet. Besonders, wenn die Sonne hinter der Schlossfassade verschwindet, setzt David Horns Lichtregie ganz eigene Akzente, stets den „Träumen aus Licht“ angemessen. „Sunset Boulevard“ in Ettlingen lässt einen solchen lebendig werden.
Text: Sylke Wohlschiess