Großartig:
Rezension „Jesus Christ Superstar“ in Bad Hersfeld
09.07.2023 – Musical-Rezension „Jesus Christ Superstar“ - Die Rockoper von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice - mit Andreas Bongard, Tim Al-Windawe, Sidonie Smith, Frank Winkels, Rob Pelzer u.v.a.
Aus schwindelerregender Höhe blickt Jesus hinab auf das Geschehen, das sich in den ehrwürdigen Mauern der Stiftsruine entfaltet. Sein Blick ist gütig, die Arme weit ausgebreitet. Spannweite um die fünf Meter. Nein, die Rede ist (noch) nicht vom grandiosen Hauptdarsteller Andreas Bongard, sondern von der fast sieben Meter großen Jesusfigur, die zu Beginn der Rockoper „Jesus Christ Superstar“ hochgezogen wird und fortan über der Apsis schwebt, mit bester Sicht auf Stefan Hubers exzellente Inszenierung.
Gänsehautmomente in der Stiftsruine
Aus dem Jahr 1971 stammt das Werk von Komponist Andrew Lloyd Webber, für das Tim Rice auf Basis der vier Evangelien die Texte verfasste. Aus Judas‘ Sicht werden die Ereignisse in den letzten sieben Lebenstagen von Jesus Christus erzählt. Dass Judas nicht als „der Böse“, sondern vielmehr als sympathischer Kritiker mit lobenswerten Absichten dargestellt wird, hat „Jesus Christ Superstar“ von den Tagen der Uraufführung bis heute immer wieder Gegenwind aus Kirchenkreisen eingebracht.
Umso tiefsinniger der Einstieg, den Regisseur Stefan Huber dem eigentlichen Beginn voranstellt: In einer Messe wendet sich ein greiser Priester an die Jugend der Welt, ermutigt sie „Baumeister inmitten von Trümmern zu sein“. Worte, die Papst Franziskus im November 2021 während einer Jugendmesse im Petersdom sprach. Man spürt die Sanftmut, die von dem Kirchenmann ausgeht, wenn er die zittrigen Hände wie segnend den jungen Messdienern entgegenstreckt. Diese jedoch schrecken trotz seiner fast heiligen Ausstrahlung zurück. In die Messe platzen die Apostel. Sie stoßen die Mitra vom Kopf des gebrechlichen Priesters und zerren das Messgewand zu Boden. Judas zerreißt die Kreuzkette. Zum Vorschein kommt ein junger Mann – Jesus. Parallel gleitet die riesige Jesusfigur in die Höhe, Glockenklänge wehen durch die Stiftsruine.
Dies wirkt unglaublich intensiv, fast, als würden sich die Zeitlinien überkreuzen: Das Mittelalter, als in der Stiftskirche Gottesdienste gefeiert wurden, die Zeit um 33 n. Chr. und die Gegenwart, in der Okarina Peter und Timo Dentler diesen geschichtsträchtigen Ort in die ideale Kulisse für das Musical „Jesus Christ Superstar“ verwandelt haben. Wo sonst nur leere Fensterbögen zu sehen sind, funkeln wieder bunte Kirchenfenster. Ein riesiges Kreuz auf Rollen ist flexibel einsetzbar, dient liegend als Abendmahlstisch, wird halbhoch aufgestellt, als Jesus im Garten Gethsemane mit Gott Zwiesprache hält und fungiert als Laufsteg. Von weit hinten führt eine schräge Ebene nach vorne, verschiebbare Treppen verbinden diese zweite Ebene mit der vorderen Bühnenfläche.
Stefan Huber schickt sein herrlich bunt gemischtes Ensemble auf weite Wege durch die gesamte Spielfläche, der ganze Raum wird genutzt, inklusive der Gänge im Zuschauerraum. Sprühend vor Energie – auch mal mit kleinen artistischen Einlagen - wirbeln Apostel und Jesus-Anhänger in weiten Hosen aus schillerndem Stoff und Shirts mit passend farblich abgestimmten Ärmeln durch die Szenerie. Auf die Kostüme lohnt ein genauer Blick, denn was Okarina Peter und Timo Dentler hier geschaffen haben, ist in höchstem Maße kreativ und so vermutlich noch nie auf einer Theaterbühne zu sehen gewesen.
Einzigartige Kostüme
Die Shirts der Apostel zeigen jeweils einen anderen Ausschnitt aus Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl“. Einzig Judas ist eine Ausnahme: Seine Bekleidung nimmt mit dem Bild „The Judas Kiss“ sein Handeln voraus. Gemalt wurde es Nicodemus Silivanovich, der 1834 im heutigen Belarus geboren wurde. Auch der Mantel des Herodes visualisiert, was er angeblich getan hat: „Der bethlehemitische Kindermord“ von Peter Paul Rubens. Pontius Pilatus‘ Umhang ziert ebenfalls ein Gemälde: „Ecce Homo!“, ein Werk des im Tessin geborenen Malers Antonio Ciseri.
Die Jesus-Fans tragen mit Stolz ihre Fanshirts - mit Heiligenbildchen statt Rockband-Fotos. Der Star selbst ist in einen Mantel gehüllt, der dem Turiner Grabtuch nachempfunden ist, auf seinem Hemd prangt eine verbreitete Darstellung des Heiligsten Herzen Jesu, die sich auch auf den Flugblättern wiederfindet, die beim Einzug in Jerusalem – ohne Palmwedel, dafür ganz im Stil einer Demo mit Schildern und Spruchbändern - verteilt werden. Corporate Identity vor 2.000 Jahren und ein Beispiel für die Liebe zum Detail, die die Arbeit von Okarina Peter und Timo Dentler auszeichnet.
Das Merchandise-Angebot im Tempel könnte leicht den einen oder anderen Star von heute vor Neid erblassen lassen: Schirme, Poster, Flaggen, Taschen, Ballons, Luftmatratzen, Kissen, Plastikweihnachtsbäume und die Heilige Familie als Badeinsel-Edition – es gibt nichts, was es nicht gibt.
Diese Szenen zeigen eindrucksvoll, wie man „Jesus Christ Superstar“ in die heutige Zeit holen kann, ohne das Werk krampfhaft modernisieren zu wollen, wie man aktuelle Bezüge und Denkanstöße schafft, ohne dem Publikum den moralischen Zeigefinger vorzuhalten. Es ist eine Freude zu sehen, wie Regie, Ausstattung und auch Melissa Kings sehr natürlich wirkende Choreografie ineinander greifen und ein vielgespieltes Musical zu einem völlig neuen Erlebnis machen. Wenn dann noch die musikalische Umsetzung so perfekt gelingt, bleiben keine Wünsche offen.
Andrew Lloyd Webbers Kompositionen entfalten ihre treibende Intensität mit voller Wucht, wenn sie von einem großen Orchester interpretiert werden. Christoph Wohlleben führt seine ausgezeichneten Musikerinnen und Musiker kraftvoll-elegant durch die gesamten gut zwei Stunden, ohne Atempause, ohne den kleinsten Leerlauf. Tonmeister Joerg Grünsfelder sorgt für beste Soundqualität. Die Musik ist dominiert von Rock und Blues, aber auch Gospel und klassische Elemente erklingen. E-Gitarren wummern durch die Nacht, um gleich darauf von harmonischen Streicherklängen abgelöst zu werden. König Herodes‘ verspottet Jesus zu Ragtime-Rhythmen, Maria Magdalena besingt ihn mit einer wunderschönen Rockballade.
Andreas Bongard, Tim Al-Windawe und Sidonie Smith in Bestform
„Wie soll ich ihn nur lieben“ fragt sich Sidonie Smith in der Rolle der Maria Magdalena. Sie ist zur Stelle, wenn Jesus sie braucht, aber eine ihr gänzlich ungewohnte Scheu lässt sie sehr zurückhaltend agieren, was Sidonie Smith mit fein dosiertem Spiel umzusetzen weiß. Auch das taubenblaue Kleid, das das sonst übliche Rot nur mit einem Herz und einer Bordüre aufnimmt, unterstreicht diese Rolleninterpretation. Eine aus ihrem tiefsten Inneren kommende Verehrung bringt Maria völlig durcheinander. Von leise-fragend bis verzweifelt-rufend legt Sidonie Smith die ganze Bandbreite dieses Wirrwarrs der Gefühle in ihre wunderbar klare Stimme.
Auch Judas wird von widerstreitenden Emotionen geradezu gepeinigt. Tim Al-Windawe rockt sich mit Leib und Seele durch die Ereignisse. Inbrünstig beschwört er Jesus mit vor Sorge fast überkippender Stimme, auf seine Warnungen zu hören und seine Anhänger zu mäßigen. Verzweifelt krallt er sich an Jesus‘ Mantel, im Gesicht pure Angst. Judas glaubt an die Sache und fühlt sich Jesus tief verbunden. Aber er ist sich sicher: Den Starkult um Jesus als „neuen König“ werden die herrschenden Römer nicht dulden, Judas fürchtet um das Leben aller, die sich um Jesus scharen – und trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Mit prägnanter Mimik und Gestik lotet Tim Al-Windawe seine Rolle bis ins kleinste Detail aus. Seine Verzweiflung über seinen eigenen Verrat wirkt absolut authentisch, seine gequälten Schreie bei der Selbstmord-Szene gehen unter die Haut. Enorme Bühnenpräsenz und ein starker Rocktenor machen Tim Al-Windawe zum ebenbürtigen Gegenpart des strahlenden Jesus Christus.
Für dessen Darstellung hätte Regisseur Stefan Huber keinen besseren finden können, als Andreas Bongard. Bongards Darstellung des Jesus von Nazareth ist zutiefst menschlich. Kein cooler Superstar, sondern ein per se zurückhaltender Mann, dessen starke Visionen und Überzeugungen ihm die Anführerrolle aber mehr oder weniger aufdrängen. Zugleich wird Jesus immer wieder von Selbstzweifeln gequält. Subtil spielt Andreas Bongard heraus, dass Jesus sich in den ruhigen Momenten mit Maria Magdalena wohler fühlt, als inmitten seiner Fans. In deren Bewunderung sonnt er sich zwar, aber als ihre Forderungen überhandnehmen, weiß er sich kaum zur Wehr zu setzen und reagiert letztlich aggressiv. Dies aber so heftig, dass sich die Händler und Geldverleiher in Windeseile aus dem Tempel zurückziehen, die Kranken erschrocken von ihm ablassen und sogar der dauerwütende Judas verstummt.
Die Ambivalenz von Jesus‘ Emotionen vermittelt Andreas Bongard mit präzisem Spiel und natürlichem Charisma, das ihn für die Rolle geradezu prädestiniert. Hinzu kommt eine gesangliche Leistung, die ihresgleichen sucht. Andreas Bongard verfügt nicht nur über einen einprägsamen Tenor mit hohem Wiedererkennungswert, sondern brilliert mit perfekter Stimmführung und -kontrolle. Insbesondere im Solo „Gethsemane“ vermittelt Bongards Gesang zugleich schauspielerische Tiefe: Mal laut, mal leise, mit gezielt gesetzten Pausen und kurzen Passagen, in denen er Gott die Worte entgegenschleudert, um dann ohne hörbaren Übergang in die Kopfstimme zu wechseln. Auch in diesen Passagen steuert Andreas Bongard bewusst seine Stimme, lässt sich aber zugleich völlig in die Emotion des Augenblicks fallen – eine absolut herausragende Darbietung.
Doch nicht nur die Darsteller der großen Rollen zeigen Glanzleistungen. Rob Pelzer holt alles aus seinem Part heraus und begeistert als stimmstarker König Herodes mit geziertem Gehabe, das gar nicht erst versucht, seine Bosheit zu kaschieren. Unter Stefan Hubers Regie gerät „Herodes“ nicht wie so oft zur Klamauknummer, sondern versprüht bitterbösen Sarkasmus. Frank Winkels kämpft als Pontius Pilatus mit seinen Ängsten und Gewissenskonflikten. Wird er wirklich derjenige sein, dem man die Schuld geben wird? Frank Winkels versteht es, in seiner kurzen Bühnenzeit den Konflikt des Pontius Pilatus nachhaltig darzustellen. Doch er hat keine Chance, Jesus zu helfen, dessen Tod lautstark von denjenigen gefordert wird, die ihn zuvor noch angehimmelt haben. Hier und im gesamten Stück agiert das gesamte Ensemble unter Stefan Hubers Personenführung großartig, es gibt intensive Blickkontakte und viel Interaktion. Ob Apostel, in deren Männerriege Stefan Huber drei Damen schmuggelt, oder Priester wie Matthias Graf mit tiefstem Bass als Kaiapas und Holden Madagame mit schneidender Stimme als bösartig-hinterlistiger Annas, alle sind mit vollem Herzen bei der Sache, singen und spielen auf höchstem Niveau.
Bei „Jesus Christ Superstar“ treffen in den altehrwürdigen Kirchenmauern der Bad Hersfelder Stiftsruine ein kreatives Team, ein erstklassiges Ensemble, fantastische Hauptdarsteller und hervorragende Musiker zusammen und erwecken die „wohl größte Geschichte der Menschheit“ zu neuem Leben. Und so sind unter dem Bad Hersfelder Sommerhimmel wieder einmal ganz besondere Theatermomente garantiert.
Text: Sylke Wohlschiess
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Darstellerprofil Frank Winkels