Fabelhafte Fantasiereise:
Rezension "Big Fish" in Heilbronn
"Eine Hexe hat mir vorhergesagt, wie ich sterben würde. So würde es nicht passieren. Warum also hätte ich vor dem Riesen Angst haben sollen?"
Edward Bloom erzählt für sein Leben gern Geschichten. Und immer ist er der umjubelte Held. Der große Fisch in seinem Teich. Er malt seine Realität in schillernden Farben aus und verwischt dabei die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion. Darunter leidet sein Sohn Will, der von den Erzählungen schon als Zehnjähriger nicht viel hält und sich von seinem Vater um die Wirklichkeit betrogen fühlt. Erst als Edward im Sterben liegt, finden die beiden zueinander.
Die Romanvorlage erdachte der aus Alabama stammende Schriftsteller Daniel Wallace. Im Jahr 2003 brachte Regisseur Tim Burton den Stoff auf die Kinoleinwand, 2013 entstand das Musical mit den Kompositionen und Songtexten von Andrew Lippa und – ebenso wie beim Film – dem Buch von John August. Der Bayerischen Theaterakademie August Everding ist es zu ihrem 20-jährigen Jubiläum gelungen, sich die Rechte für die Europäische Erstaufführung zu sichern. Nach einer kurzen Spielzeit im Münchner Prinzregententheater im November 2016 ist das studentische Abschlussprojekt im Januar 2017 für wenige Vorstellungen zu Gast am Theater Heilbronn.
Grandioses Musiktheater von der ersten bis zur letzten Minute, anders kann man nicht beschreiben, was das Publikum im ausverkauften Saal des Großen Hauses erleben darf.
Der Musikalische Leiter Tom Bitterlich sitzt selbst am Keyboard und führt seine 13 Musikerkollegen durch die Partitur, deren Schwerpunkt eingängige Midtempo-Nummern und wunderschöne Balladen bilden, die die Gefühle der handelnden Personen transportieren. Zudem bekommt jede von Edwards Fantasiegeschichten ihre typische Klangfarbe. Große Showeinlagen mit mitreißenden Choreographien von Danny Costello gibt es beispielsweise, nachdem Edward im Krieg einen Anschlag vereitelt oder die Bewohner einer Westernstadt so richtig aufdrehen. Die musikalische Vielfalt von Andrew Lippas Kompositionen macht "Big Fish" ebenso zu etwas Besonderem, wie der inhaltliche Anspruch.
Die unerwartete Vater-Sohn-Konstellation - nicht das Kind, sondern der Erwachsene fühlt sich in der Welt der Fantasie zu Hause - schafft dabei ebenso viele Spannungsmomente, wie die vielen imaginären Ereignisse, die Stationen auf Edwards Lebensweg symbolisieren. Regisseur Andreas Gergen verwebt in geradezu märchenhaft schönen Bildern die zwei Zeitlinien mit den beiden Handlungsebenen des Musicals. Rasant geht es hin und er, es gibt weder Stillstand noch Leerlauf. Singen die Hauptdarsteller ihre großen Soli, läuft oft eine Nebenhandlung unaufdringlich im Hintergrund weiter. Die Inszenierung wirkt unglaublich leicht und fließend. Und die jungen Darsteller lassen durch Natürlichkeit und offensichtliche Spielfreude eine fast magische Atmosphäre entstehen, die der Faszination des Kinofilms in nichts nachsteht.
Dazu trägt auch Sam Madwars gelungenes Bühnenbild bei. Der Umriss eines Hauses ist optisch aus der Projektionsfläche an der Bühnenrückseite ausgespart. Werden die beiden senkrecht verschiebbaren Wandelemente heruntergefahren, bilden sie die Außenfront des Bloom’schen Wohnhauses, werden sie hochgezogen, blickt man in die Räume der Blooms, in Arztpraxen oder in Wills New Yorker Büro. Während in diesen Szenen die Projektionen nur außerhalb des Umrisses laufen, wird die Projektionsfläche vor allem in den Szenen der Fantasieebene voll genutzt. Durch geschickte Platzierung von Requisiten und sorgfältiges Timing verbinden sich Bilder und Kulissen zu einer pefekten Einheit. Wenn vor einem (projizierten) Narzissenfeld gelbe Blütenblätter fallen, das Winken des Leinwandriesen von der Bühne aus erwidert wird oder die Bewohner des Dorfes Ashton auf riesigen Kisten sitzen, während das (projizierte) Wasser immer höher steigt, entstehen immer wieder ganz unterschiedliche Stimmungen. Diese Kisten, die mehr oder weniger zahlreich eingesetzt werden und auch als Showtreppe oder Rednerpult fungieren, schaffen eine zusätzliche inhaltliche Anbindung, kramt doch Will aus Kartons auf dem Dachboden alte Unterlagen hervor, die er als Beweismaterial für Fehlverhalten seines Vaters wertet.
Geht es um seinen Vater, nimmt Will nämlich erst einmal das Schlimmste an. Unberechenbar wie ein Hurrikan sei er und verstecke sich hinter seinen Lügengeschichten. Erst als Will selbst bald Vater werden soll, erkennt er zunächst fast gegen seinen Willen das Positive in Edward. Mit differenziertem Spiel und dem wunderbar interpretierten Solo "Stranger" bringt Matias Lavall dieses Ab und Ab der Emotionen zum Ausdruck. Er lässt mit hervorragender Mimik erahnen, welche Abgründe hinter einem eigentlich eher harmlosen Streit bei seiner Hochzeit stecken. Laval vermittelt intensiv die Verlorenheit, die das Kind Will empfand, das sich vom Vater echte Nähe statt Geschichten wünschte und erklärt so ohne Worte die unterschwellige Aggressivität, die sich ein Leben lang durch die Vater-Sohn-Beziehung zieht. Erst als Edward Will auf dem Sterbebett bittet, seine Geschichte für ihn zu Ende zu erzählen, fallen endlich die Mauern zwischen den beiden. "Ich kann das nicht" ruft Will zwar verzweifelt, aber er erkennt im letzten Moment, dass auch er seinen Teil beitragen und einen Schritt auf seinen Vater zugehen muss. Großartig spielen Matias Lavall und Benjamin Oeser in der Rolle des Edward Bloom die letzte, gemeinsame Reise ins Reich der Imagination. Wie selbstverständlich stehen nun Riese und Hexe neben den realen Personen, denen Edward im Laufe seines Lebens begegnete. Die Handlungsebenen verschmelzen und Lavall lässt mit großer darstellerischer Kraft spüren, wie sich in Wills Trauer um den Tod des Vaters ein tiefer Friede mischt.
Mit ebenso intensivem Spiel glänzt Benjamin Oeser. Als Edward Bloom ist er in jeder Szene auf der Bühne, hat die meisten Gesangsparts und muss ständig zwischen den Zeitebenen wechseln. Mit Bravour meistert der junge Darsteller diese riesige Herausforderung. Steppt er gerade noch mit strahlendem Lachen, flotter Sohle und jungen Damen übers Parkett, genügt eine Drehung und der Griff zur Brille, um 50 Jahre zu altern. Von einem Moment zum anderen bewegt er sich in gebückter Haltung vorsichtig mit langsamen Schritten, sogar sein Gesichtsausdruck spiegelt ganz und gar den schmerzgeplagten gealterten Mann, der auch jetzt noch fast heroisch an seinem Motto "Sei der Held deiner Geschichte" festhält. Dass Oeser als Mittzwanziger auch diese Facette der Rolle so authentisch vermittelt, lässt auf wirklich außergewöhnliches schauspielerisches Talent schließen. Hinzu kommt eine Stimme, die schon mit den ersten Tönen berührt und begeistert. Die bestechend schöne Klangfarbe lässt ebenso aufhorchen, wie die absolut sichere Stimmführung: Scheinbar völlig mühelos fließen die Töne, jede Nuance stimmt, jede Note wird zur gesungenen Emotion. Ohne jeden Zweifel steht mit Benjamin Oeser ein Künstler auf der Bühne, dessen Name man sich merken sollte. Ein "großer Fisch" – in jedem Teich.
Als Sandra, Edwards Frau und Wills Mutter, wechselt auch Theresa Weber elegant zwischen den Zeitlinien, ist unbeschwert fröhlich und ein wenig kokett als junges Mädchen, als fürsorgliche Mutter ein Halt für den Sohn und als liebende Ehefrau bis zum Schluss an Edwards Seite. Diese Wandlungsfähigkeit beweist sie auch gesanglich. In "Little Lamb from Alabama" passt Theresa Weber sich stimmlich an das Klischee der oberflächlichen Cheerleader-Girls an, mit dem dieser Song spielt. Angenehm sanft und lyrisch klingt ihr Sopran dann bei "I don’t need a Roof".
Wiebke Isabella Neulist weckt als Wills Frau Josephine sein Verständnis für seinen Vater: "Wenn du die Geschichte verstehst, verstehst du den Menschen". Nils Klitsch darf als durch und durch unsympathischer Don Price sein Unwesen treiben, Edwards Jugendfeind und Rivale um Sandras Hand. Zacky Price, der unter dem Schutz des großen Bruders dessen Boshaftigkeiten wie ein fieses Echo wiederholt, spielt Claudio Gottschalk-Schmitt mit viel Witz.
Lisa Rothhardt kommt als Jenny Hill eine wichtige Schlüsselfunktion zu, die sie mit einfühlsamer Darstellung umsetzt. Will hegt den Verdacht, Edward sei fremdgegangen. Jenny kann dies entkräften und ermöglicht Will dadurch die Annäherung an seinen Vater. In der Fantasiewelt erscheint Jenny als Hexe und lebt mit dem fast aggressiven Gesangssolo wohl auch ihre Trauer darüber aus, Edward nie für sich gewonnen zu haben. Lisa Rothhardt gefällt in der "Witch Sequence" mit rockiger Stimme, von der man gerne noch mehr gehört hätte. Auch angesichts der Leistungen der übrigen Cast mag man kaum glauben, dass auf der Bühne Künstler stehen, die noch in Ausbildung sind oder diese eben erst beendet haben. Ausgesprochen engagiert wird jede noch so kleine Rolle ausgefüllt.
Ulli Kremers gelungen typisierenden Kostüme liefern die optische Basis für die sehr überzeugende Ensembleleistung: Hexen in Grün-Schwarz, Glittergirls in Stars and Stripes, Cowboys in Country-Karo. Ganz besonders ins Auge fallen die detailverliebten Gewänder der Zirkusleute in schwarz, weiß und rot. In der Zirkusszene kommt auch Artist David Pereira zum Einsatz, der schon im Cirque de Soleil auftrat und an von der Decke hängenden Bändern, den sog. Strapaten, mit unglaublicher Körperbeherrschung das Publikum in atemloses Staunen versetzt. Ein gelungener Einfall, denn so werden die Besucher unmittelbar ins Geschehen integriert, was das Gesamterlebnis zusätzlich intensiviert.
Ebenfalls in Amos Calloways (prima: Johannes Osenberg) Zirkus engagiert wird Karl, der Riese. "Hat schon jemand versucht, mit ihm zu reden?" fragt Edward die Dorfbewohner, die den Riesen aus Angst jagen wollen. Mit einer durch Hall und künstliche Tiefe verfremdeten Stimme macht Robert Lankester schnell klar, dass Karl zwar anders, aber weder gefährlich noch dumm ist.
Dies ist ein Beispiel für die Freiheit, die das Kreativteam dem Publikum lässt: Alles wird ermöglicht, aber nichts erzwungen. Weder muss man sich mit gesellschaftskritischen Aspekten befassen, noch mit psychologischen Deutungen der Charaktere. "Big Fish" funktioniert auch einfach nur beim entspannten Genießen. Wer sich aber auf die poetische Tiefe der Geschichte einlassen möchte, wird Edward Blooms Lebensphilosophie erspüren, mit einem unbestimmten Glücksgefühl den Saal verlassen und vielleicht einen Teil der ganz besonderen Magie dieses Musicals in den eigenen Alltag mitnehmen. Und was könnte Theater Schöneres bewirken?
Text: Sylke Wohlschiess
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